Das Prinzip Transients

Der Vorteil im Übergang

Organisationen werden für einen stabilen Zustand optimiert. Ihre Pläne sind präzise, ihre Prozesse auf Effizienz getrimmt. Sie verteidigen diese sorgfältig konstruierte Identität, denn sie ist die Grundlage ihres bisherigen Erfolgs. Das macht sie berechenbar – und damit verwundbar für eine Realität, deren Normalzustand der permanente Übergang ist.

Der Markt, die Technologien, die Interessen der Akteur:innen: Alles ist im Fluss. In diesem Umfeld entscheidet die Fähigkeit zur schnellen Orientierung über die Wirksamkeit, mit der die Zukunft gestaltet wird, während die Verteidigung des Plans die dafür nötige Energie verbraucht.

Ein paradoxer Vorteil

Der Ursprung dieses Gedankens liegt in einer Beobachtung des Militärstrategen John R. Boyd. Im Koreakrieg war die amerikanische F-86 der sowjetischen MiG-15 in fast allen technischen Kennzahlen unterlegen. Dennoch erzielte sie eine überlegene Abschussrate.

Der Vorteil lag in der Dynamik des Übergangs. Boyd identifizierte zwei entscheidende Unterschiede:

  1. Überlegenes Lagebild: Die F-86 hatte eine Vollsichthaube. Sie ersetzte ein durch den Flugzeugrahmen limitiertes Sichtfeld durch eine nahtlose 360-Grad-Perspektive. Der Pilot musste die Realität nicht mehr aus einer lückenhaften und verzerrten Wahrnehmung ableiten, sondern konnte sie unmittelbar und ganzheitlich erfassen.
  2. Überlegene Handlungsfähigkeit: Hydraulisch unterstützte Steuerflächen ermöglichten dem Piloten, Manöver mit minimalem Energieaufwand einzuleiten. Er konnte seine volle kognitive Kapazität auf das Gefecht richten, anstatt gegen die Reibung der eigenen Maschine zu kämpfen.

Während die MiG in einem stabilen Zustand überlegen war, war sie im Übergang angreifbar. Der F-86-Pilot nutzte seine nahtlose Wahrnehmung und reibungslose Steuerung, um den Rhythmus des Kampfes zu diktieren. Seine Manöver waren für den Gegner so schnell und unvorhersehbar, dass dessen Orientierung kollabierte. Jede Reaktion des MiG-Piloten war in dem Moment, in dem er sie ausführte, bereits veraltet. Der Amerikaner operierte innerhalb des Entscheidungszyklus seines Gegners.

Boyd nannte diese Fähigkeit, den Gegner durch abrupte Zustandsänderungen zu desorientieren, Fast Transients.

Vom Cockpit in den Konferenzraum

Dieses Prinzip gilt heute umso mehr für strategische Entscheider:innen. Die wirksame Organisation kultiviert die Fähigkeit, die eigene Lage und den eigenen Plan von außen zu betrachten. Sie versteht, dass ihr eigentliches Betriebssystem eine permanente Verhandlung mit der Realität ist.

  • Die Vollsichthaube ist heute ein ungeschminktes, geteiltes Lagebild. Es geht über reine Daten hinaus und erfasst die verborgenen Interessen und Machtdynamiken im System.
  • Die hydraulischen Steuerflächen sind die tatsächliche Handlungsfähigkeit einer Organisation: die Kompetenz, Blockaden zu lösen und mit minimaler Reibung vom Erkennen zum wirksamen Handeln zu kommen.

Die Fähigkeit zu schnellen Übergängen ist das Ergebnis disziplinierten Trainings. Es schärft die Wahrnehmung und die reibungslose Handlungsfähigkeit. Das Ziel ist ein fundamentaler Wandel in der Haltung, der zu überlegener Wirksamkeit führt: Sie reagieren nicht mehr nur auf die Realität. Sie gestalten das Spielfeld, während andere noch auf die veraltete Landkarte blicken.